Erdogan riskiert den Kollaps der türkischen Wirtschaft

Von Frank StockerFinanz-Redakteur

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Frank Stocker

Ökonomen hatten neue Hoffnung geschöpft, dass die Türkei den Weg aus der Wirtschaftskrise findet. Doch nachdem Erdogan den Präsidenten der Zentralbank entlassen hat, ist das Entsetzen groß. Mancher sieht das Land auf dem Weg zu einem zweiten Venezuela.139Werbung ausblendenAnzeige

„Der Leopard ändert seine Flecken nicht“, stellt Phoenix Kalen, die Bibel zitierend, leicht resigniert fest. Die Schwellenländerexpertin der Investmentbank Société Générale hatte gehofft, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nach der krachenden Niederlage bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul pragmatischer wird, wieder auf den erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kurs seiner ersten Amtsjahre zurückschwenkt und so die Wirtschaftskrise bald ein Ende findet. Doch seit dem Wochenende ist diese Hoffnung zerstoben.

Denn seit Erdogan den Präsidenten der Zentralbank in einer einsamen Entscheidung entlassen hat, ist klar: Erdogan bleibt sich treu – und das Entsetzen ist groß. Ökonomen, Analysten und Investoren fürchten nun, dass der Präsident die Türkei noch tiefer in die Krise stürzt.ANZEIGE

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Mancher sieht das Land sogar schon auf dem Weg zu einem zweiten Venezuela – auf den ersten Blick ein abenteuerlicher Vergleich. Doch einige Voraussetzungen für eine solche Entwicklung sind bereits gegeben. Und dazu kommt noch ein neuer außenpolitischer Konfrontationskurs mit den USA und der EU.

Quelle: Infografik WELT

Noch vor zehn Tagen war Kalen außerordentlich positiv für die Türkei gestimmt. Sie sah nach den Wahlen in Istanbul einen „Wendepunkt zu einer positiveren Dynamik“. Sie glaubte Erdogan werde, um nicht noch mehr Wähler zu verlieren, pragmatischer werden und zu Kompromissen bereit sein. Die Wirtschaft wähnte sie auf dem Weg der Erholung, und sie hielt Investitionen in der Türkei für attraktiv.

Doch dann entließ Erdogan am Samstag überraschend per Erlass Notenbankchef Murat Cetinkaya. Die Zeitung „Hürriyet“ berichtete am Sonntag, Erdogan habe das vor Abgeordneten seiner Partei damit begründet, dass dieser sich geweigert habe, seinen Forderungen zu folgen.

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„Wir haben ihm auf Wirtschaftstreffen immer wieder gesagt, dass er die Zinsen senken soll“, wird Erdogan zitiert. „Wir haben gesagt, wenn die Zinsen sinken, sinkt auch die Inflation. Er hat aber das Nötige nicht getan.“

Erdogan sieht in den hohen Zinsen die Ursache für Inflation

Diese These vertritt Erdogan seit Jahren. „Der Präsident sieht in hohen Zinsen die Ursache für die hohe Inflation im Land, was – mit Verlaub – eine doch sehr wirre Theorie darstellt“, sagt Sören Hettler, Währungsexperte bei der DZ Bank. Denn die gängige Theorie, die auch seit Jahrhunderten in der Praxis belegt wurde, besagt, dass niedrige Zinsen die Inflation befördern.

So war dies auch in der Türkei in den vergangenen Jahren: Viel zu lange hatte die Notenbank die Zinsen niedrig gehalten, was die Wirtschaft rasant wachsen ließ, gleichzeitig jedoch auch die Inflation – bis der Wert der Lira sich vor einem Jahr innerhalb weniger Wochen halbierte und die Inflationsrate auf über 25 Prozent kletterte.

Erst die drastischen Zinserhöhungen der Notenbank stoppten diese Entwicklung. Doch dies würgte gleichzeitig das Wirtschaftswachstum ab – seit Ende letzten Jahres befindet sich die Türkei in einer tiefen Rezession.Anzeige

Quelle: Infografik WELT

Allerdings sank parallel auch die Inflationsrate wieder auf knapp 16 Prozent, und vor allem ging das Außenhandelsdefizit, eine der Hauptursachen des Währungsverfalls, deutlich zurück. Ein schmerzlicher, aber unvermeidbarer und erfolgreicher Prozess hatte eingesetzt, der auch dazu führte, dass Investoren allmählich wieder Vertrauen aufbauten.

Doch das verfliegt gerade schon wieder. „Die Absetzung des Notenbankchefs spricht dafür, dass Erdogan darauf besteht, sein Diktat in der Geldpolitik durchzusetzen, und im weiteren Sinne deutet dies auf eine strenge Kontrolle der Wirtschaftspolitik durch den Präsidenten hin“, sagt Phoenix Kalen.

Konkret befürchtet sie, dass die Notenbank die Zinsen nun aggressiv senken wird. Tatsächlich kündigte Erdogan am Mittwoch an, dass eine komplette Neuausrichtung der Zentralbank notwendig sie. Doch Kalen fürchtet, dies könne die Finanzstabilität des Landes unterminieren.

Erdogan riskiert einen Kollaps

Andere gehen noch weiter, beispielsweise Jan Dehn, Chef-Analyst der auf Schwellenländer spezialisierten Anlagegesellschaft Ashmore, die rund 76 Milliarden Euro verwaltet. Seiner Meinung nach riskiert Erdogan, dass die türkische Wirtschaft auf einen Kollaps zusteuert, so wie dies in Venezuela geschehen ist.

Zwar sei die türkische Wirtschaft erheblich breiter aufgestellt als jene Venezuelas, die weitgehend von der Ölförderung abhängt. Was die politischen Fehlentscheidungen angehe, sei Ankara aber auf einem ähnlichen Weg.

Dazu gehöre beispielsweise, dass Symptome angegangen werden, statt die zugrunde liegenden Probleme zu lösen, dass andere für die Probleme verantwortlich gemacht werden und dass schließlich, wenn der private Sektor reagiert und versucht sein Vermögen in Sicherheit zu bringen, auch dieser private Sektor angegriffen werde.LESEN SIE AUCH

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All das hat man in der Türkei schon gesehen. Letzter Ausweg seien dann Kapitalkontrollen und Verstaatlichungen, diese seien die nächsten „logischen politischen Schritte“, die in der Türkei folgen würden, glaubt Dehn.

Zusätzlich erschwert wird die Lage der Türkei dadurch, dass sie sich derzeit auch noch im Streit mit ihren wichtigsten Handelspartnern befindet, den USA und der EU. Dieser Tage treffen die ersten Teile des Raketenabwehrsystems S-400 in der Türkei ein – gekauft in Russland.

Das bringt die US-Regierung auf, die schon mit Sanktionen gedroht hat. Und gleichzeitig hat ein Bohrschiff unter dem Schutz der türkischen Marine begonnen, vor der zyprischen Küste nach Gas zu bohren.LESEN SIE AUCH

A young woman beggar seeks alms wth her child on a street beforte a bank 18 December 2001 in Buenos Aires. Argentina, which is teetering on the brink of default on debt payments, saw its crisis deepen earlier this month when the IMF delayed a crucial disbursement of 1264 billion USD until the government imposes promised austerity measures and tax reforms. (Photo credit should read DANIEL GARCIA/AFP/Getty Images)

ANLEGERGEFAHRTürkei-Krise weckt böse Erinnerungen an 1997

Um die dort vermuteten Gasreserven auszubeuten, hatten sich erst kürzlich sieben Staaten zusammengetan und das „Gasforum Ost-Mittelmeer“ mit Sitz in Kairo gegründet. Dies versucht die Türkei nun zu unterlaufen und erntete prompt Protest sowohl aus Washington als auch aus der EU.

Doch auch das passt letztlich in die Charakteristik des wirtschaftlichen Abstiegs, wie ihn Jan Dehn dargelegt hat. Denn je schlechter es wirtschaftlich läuft, desto dringender braucht eine Regierung dann Sündenböcke.

In Venezuela ist es der angebliche „Wirtschaftskrieg des Westens“ gegen das Land, der für das Elend verantwortlich gemacht wird. Erdogan strickt offenbar schon an einer ähnlichen Legende.

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